PROZESSAUTOMATISIERUNG & DIGITALISIERUNG

Leistungsfähige Logistik für Impfstoffe
Der Aufbau einer leistungsfähigen Logistik ist ein wichtiger Faktor bei der Impfstoffproduktion. So ist eine Automatisierung unumgänglich, falls in kürzester Zeit große Mengen Impfstoff hergestellt werden müssen, wie zum Beispiel während der Corona-Krise. Als ein global agierendes Unternehmen seine Impfstoffherstellung zügig ausweiten musste, entwickelten die Unternehmen Goldfuß engineering und Simon IBV eine robotergestützte Lösung für den Arbeitsschritt des Be- und Entladens von Rollwagen mit Impfstoff-Vials. Der Ablauf wurde vollständig automatisiert, da die Roboter dank industrieller Bildverarbeitung eigenständig operieren können.
Das Vision System der Roboterzelle ist so angebracht, dass auf dem Greifer des Roboter keine Kamera angebracht werden muss und dieser somit in der Lage ist, bis zu 46 Vials zu greifen. Goldfuß engineering GmbH
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Darstellung der im Rollwagen vorgefundenen Vials im Frontend.
3D Vision-System
Die Hardwarekomponenten der Roboterzelle umfassen neben dem Roboter hochauflösende 3D-Kameras im Stereometrie-Verfahren mit Musterprojektion und Industrie-Rechnertechnik mit schnellen Prozessoren zur PC-basierten Auswertung. Für die industrielle Bildverarbeitung wurde MVTec HALCON ausgewählt. HALCON ist die umfassende Standardsoftware für die industrielle Bildverarbeitung. Die Software verfügt einerseits über eine Vielzahl verschiedener Bildverarbeitungsmethoden und ist andererseits flexibel einsetzbar, etwa mit unterschiedlichen Kameras, da sie hardwareunabhängig ist. Als User-Interface zur Visualisierung und zur einfachen Bedienung der Anlage kommt SIMAVIS der Firma Simon IBV zum Einsatz.
Der Prozess sieht so aus, dass zunächst ein Rollwagen von einem Mitarbeitenden in eine von zwei möglichen Positionen eingeschoben wird. Eine 3D-Kamera innerhalb der Roboterzelle lokalisiert den Rollwagen und prüft den Zustand der Schubladen, also ob die Schubläden offen oder geschlossen sind. In der speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) ist hinterlegt, ob der gerade zu bearbeitende Rollwagen be- oder entladen werden soll, welche Schublade geöffnet werden soll und wo sich bereits wie viele Vials befinden. Zunächst nimmt die 3D-Kamera immer ein Bild der zu öffnenden Schublade auf. Die industrielle Bildverarbeitungssoftware MVTec HALCON erstellt daraus ein Koordinatensystem und teilt dieses mit dem Roboter. So kann der Roboter die Schublade öffnen.
Im nächsten Schritt nimmt die 3D Kamera ein Bild des Inhalts der Schublade auf. Damit wird ermittelt, wie viele Vials eingelagert sind und wo genau sie sich befinden. Neben der Anzahl wird auch auf Fehler geprüft, etwa ob einzelne Ampullen hochstehen, umgekippt sind und somit nicht vom Roboter gegriffen werden können. Der Greifer des Roboters ist so ausgerüstet, dass er jeweils 46 Vials gleichzeitig greifen kann. Nachdem eine Schublade vollständig entladen wurde, ermittelt die 3D-Kamera wieder die Position des Schubladengriffs, sodass der Roboter diese wieder schließen kann. Dieser Vorgang wird nun mit den restlichen acht Schubladen wiederholt, solange bis der Wagen komplett entladen ist.

Bildverarbeitungssoftware für unterschiedliche Aufgaben
Die Umsetzung einer solchen Lösung, bei der der Roboter weitgehend autonom arbeitet, ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Stephan Trunk von Goldfuß engineering beschreibt es so: „Die Entwicklung der Roboterzelle erfolgte unter großem Zeitdruck. Der Bedarf am Impfstoff musste schnellstmöglich gedeckt werden, was auch für unsere Mitarbeiter eine intrinsische Motivation war.“
Bei den Herausforderungen stand an erster Stelle die hohe Präzision. Die Position der Vials muss mit einer Genauigkeit von 0,1 Millimeter erkannt werden. Dazu kommt der nicht einfache Arbeitsraum von 800 x 600 sowie der Tiefe von 600 Millimeter. Gesteigert wird diese Anforderung durch den wertvollen Inhalt der Vials. Diese dürfen keinesfalls Schaden nehmen. Dennoch muss das Be- und Entladen zügig erfolgen – auch um die schnelle Bereitstellung des Impfstoffs zu ermöglichen. „Es gab darüber hinaus zwei besondere Herausforderung an das Vision-System. Zum einen musste mit unterschiedlichen Materialien gearbeitet werden. Das Glas der Vials und das Metall, etwa das der Rollwagen, weisen durchsichtige beziehungsweise reflektierende Oberflächen auf und sind so nur schwer zu erkennen. Zum anderen funktioniert die Anlage nur, wenn die Roboter autonom im dreidimensionalen Raum arbeiten können. Dazu muss die Machine Vision Software aber auch über leistungsfähige 3D-Vision-Technologien verfügen. Es gibt nicht viele Machine-Vision-Softwareprodukte, die hier die notwendige Performance und Robustheit erreichen“, sagt Daniel Simon.
Die Unternehmen entschieden sich für den Einsatz der industriellen Bildverarbeitungssoftware MVTec HALCON. „Aufgrund unserer langjährigen Erfahrung mit HALCON wussten wir, dass die Software über eine umfangreiche Bibliothek mit vielen äußerst leistungsstarken Methoden verfügt“, erklärt Daniel Simon. Bei der entwickelten Roboterzelle kommen verschiedene Machine-Vision-Technologien zum Einsatz. Die technologische Voraussetzung in der Anlage ist die sogenannte Hand-Auge-Kalibrierung. Diese Technologie ist essenziell für jegliche Anwendung, bei der Kameras mit Robotern zusammenarbeiten. Dabei wird das Koordinatensystem des Roboters und das der Kamera synchronisiert. Dadurch kann die Bewegung des Roboters präzise auf die Aufnahmen der Kamera abgestimmt werden. Die Hand-Auge-Kalibrierung von HALCON liefert eine hohe Genauigkeit bei der Bestimmung der relativen Pose zwischen Kamera und Roboter. So ist es möglich, die Positionen und Orientierungen der Vials im Bezug zum Roboter exakt zu bestimmen. Diese Kalibrierung ist die Grundlage für alle weiteren Bildverarbeitungsanwendungen mit HALCON, die für diese Anwendung nötig sind.
Parallel dazu wird die 3D-Vision-Technologie „Stereo-Vision“, die auch in HALCON enthalten ist, eingesetzt. Diese Technologie ist für die 3D-Rekonstruktion konzipiert und besonders nützlich bei großen oder mittelgroßen, strukturierten Objekten. Des Weiteren ermöglicht diese Technologie die Qualitätskontrolle oder die Positionserkennung von dreidimensionalen Objekten. Außerdem berechnet die Technologie 3D-Koordinaten auf Objektoberflächen. Dies ist sowohl mit einer, aber auch mit mehreren Kameras möglich. Stereo-Vision ist besonders geeignet für die präzise Messung von Erhebungen. Ein Feature innerhalb der Technologie ist Mehrgitter-Stereo, eine fortschrittliche Methode, um die 3D-Daten in homogenen Bildteilen zu interpolieren. Diese Methode liefert größere Genauigkeit bei kleinen Objekten.
Roboterzelle bereits im Betrieb
„Wir haben es geschafft, innerhalb von nur einem halben Jahr eine völlig neue Roboterzelle zu entwickeln und prozessstabil zum Laufen zu bringen. Wir sind stolz darauf, einen Beitrag geleistet zu haben, die Impfstoffproduktion gegen ein gefährliches Virus zu beschleunigen“, sagt Stephan Trunk von der Goldfuß engineering. Die Anlage wurde im Juli 2021 in Betrieb genommen. Auch wurden die hohen Anforderungen, etwa an die Geschwindigkeit und Präzision, erreicht. „Dieses Projekt zeigt, welche Chancen und Möglichkeiten die industrielle Bildverarbeitung bietet. Aufgrund der erfolgreichen Umsetzung sind wir sehr motiviert, weitere anspruchsvolle Aufgaben zu automatisieren. Dazu laufen schon erfolgsversprechende Projekte mit Goldfuß engineering“, sagt Daniel Simon.