THEMEN-SPECIAL

 Real-World-Daten aus vernetzten Sensoren 

 Vermessung der Gesundheit 




Für mehr als fünf Millionen Patienten in Deutschland ist das konstante, passive Erfassen von Gesundheitsdaten mit vernetzten Sensoren Alltag. Nur profitiert die medizinische Forschung davon kaum, trotz des enormen Potentials dieser Real-World-Daten. Traditionell wird Gesundheit vom Arzt gemessen: Als Anfang des letzten Jahrhunderts akute Erkrankungen wie Ruhr oder Tuberkulose die Krankenzimmer beherrschten, waren vergleichsweise simple klinische Endpunkte wie Körpertemperatur oder Herzfrequenz für die Betrachtung des Gesundheitszustandes der Standard.

100 Jahre später hat sich die moderne Medizin weiterentwickelt: Krankheiten der alten Zeit sind praktisch ausgerottet, die medizinische Versorgung bei akuten Erkrankungen funktioniert so gut, dass sie als Gegeben angesehen wird - mit Ausnahme von neu auftretenden Erregern wie COVID-19. Stattdessen dominieren nicht-übertragbare, chronische Krankheiten (non-communicable diseases – NCD) wie Diabetes, Krebs und Erkrankungen der Psyche, des Nervensystems beziehungsweise des Herzens die moderne Gesundheitsversorgung. In den vergangenen Jahrzehnten wurden neue Therapien eingeführt, neue klinische Endpunkte zur Vermessung der Gesundheit wurden im Alltag etabliert.

 

Das grundlegende Prinzip hinter der Vermessung der Gesundheit ist trotz des Wandels geblieben: Wie vor 100 Jahren wird Gesundheit episodisch durch den Arzt in Praxis oder Krankenhaus erfasst. Und das wird zunehmend zum Problem. Bei der Versorgung der NCDs etablieren sich Faktoren wie die gesundheitsbezogene Lebensqualität für die Beurteilung des Behandlungserfolg neben den klassischen Messungen der Mortalität und Morbidität. Dies stellt die medizinische Forschung vor eine zentrale Herausforderung: bis zu 90 Prozent der Behandlungsergebnisse werden bei den NCDs durch Faktoren außerhalb der ärztlichen Versorgung bestimmt. Neben genetischen Faktoren sind dies vor allem auf den Lebensstil bezogene Determinanten wie Aktivität, Schlaf, Stress, Umwelteinflüsse und Ernährung.


Die gute Nachricht: Diese Faktoren werden bereits permanent, millionenfach erhoben. Jeder von uns erzeugt jeden Tag gesundheitsbezogene Real-World-Daten: mit dem eigenen Smartphone und weiterer smarten Geräten. Mit Hilfe des Smartphones können Wetter- und Umweltinformationen aus den GPS-Daten extrahiert werden. Ebenfalls, kann die körperliche Aktivität konstant erfasst werden - immerhin haben wir das Gerät – wortwörtlich – bei jedem Schritt in der Hosentasche. Darüber hinaus erlauben vernetzte Medizinprodukten wie Waagen, Blutdruck- oder Blutzuckermessgeräten die einfache digitale Messung und Erfassung etablierter klinischer Endpunkte. 


Die spannendsten Daten liefern Wearables wie Smartwatches oder Fitnessarmbänder. Auch wenn diese häufig als Lifestyle-Gadgets vermarktet werden, liefern die Geräte dank leistungsstarker Sensoren, umfassende gesundheitsbezogene Real-World-Daten zu Aktivität, Vitalwerten, Schlaf und validierten klinischen Endpunkten wie EKGs. Nur liegen die Daten ungenutzt in den Clouds und Apps von Apple, Google und Co. Zwar nimmt der Einsatz vernetzter Sensorik in klinischen Studien international stark zu, die Nutzung von Wearables und weiterer smarter, vernetzter Geräte ist allerdings im medizinischen Umfeld alles andere als einfach.


Die aus der Interoperabilität von EHR beziehungsweise KIS-Systemen bekannten Probleme und Herausforderungen bestehen ebenso bei Daten, die aus Smartphones, Wearables, vernetzten Medizinprodukten erzeugt werden – allerdings in einer ganz anderen Gewichtigkeit. Grundlegend kann in fünf verschiedene Bereiche unterschieden werden:


Der Umgang mit den enormen Datenmengen ist herausfordernd. Während klassische, klinische Daten aus einzelnen Werten bestehen, die in diskreten Abständen erhoben werden, erzeugen smarte Geräte einen kontinuierlichen Datenstrom - 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, hunderttausende Datenpunkte. Die Daten müssen aus Hersteller-Clouds und -Apps abgerufen werden. Ein direkter Abruf der Daten aus dem Wearable ist nicht möglich, beziehungsweise technisch wenig praktikabel. Der Zugang muss durch den Hersteller der Geräte freigeschaltet werden. Vereinzelt wird dieser Zugang kommerziell nicht relevanten Akteuren verweigert, auch wenn Patienten die Daten explizit freigeben wollen.

 

Der Abruf aus den Hersteller-Clouds kann bei klinischen Studien zu prozessualen Herausforderungen führen, da der Abruf persönlich identifizierbare Daten des Patienten hinterlassen kann - etwa, das der Patient an einer bestimmten Studie teilnimmt. Damit muss die die Anbindung der jeweiligen Hersteller-Clouds typischerweise durch Ethikkommission und interne (Cloud) Security Officer des forschenden Instituts geprüft und freigegeben werden.

 

Fehlenden Standards bei Schnittstellen sorgen bei der Integration von mehr als einer Datenquelle für weitere Komplexität. Jeder Hersteller der Wearables, beziehungsweise smarter Geräte nutzt eine eigene, individuelle Datenstruktur zur Speicherung der Daten. Der Aufwand bei der Integration und gemeinsamen Auswertung verschiedener Geräte und Datenquellen steigt enorm.

 

Die Zusammenführung von sensorgestützten Daten mit Patient Reported Outcomes, beziehungsweise Fragebögen. Die Daten müssen zunächst in ein einheitliches Format harmonisiert werden. Entsprechend war für die Umsetzung klinischer Studien mit Real-World-Daten aus Wearables bisher Kreativität und großer Aufwand erforderlich. So wurden noch vor nicht allzu langer Zeit Daten aus - zuvor pseudonymisierten - Nutzeraccounts per Hand abgetippt. Mit der voranschreitenden Digitalisierung in der gesamten Gesundheitsbranche entstehen Technologiedienstleister wie Thryve, welche den Zugang zu den Daten vereinfachen.

 

Diese Daten gewinnen ebenfalls abseits der medizinischen Forschung an Bedeutung: Daten-getriebene digitale Versorgungsangebote erleben einen enormen Wachstumsschub. Diese setzen Daten aus Wearables ein, um die Individualisierung von Therapie und Behandlung zu ermöglichen, sowie die Daten zu Therapieadhärenz und Behandlungsergebnis für den Nutzennachweis zu generieren.

 

Hinter dieser Entwicklung stehen mehrere Trends, die sich gegenseitig verstärken. Die Nutzung von smarten Geräten für die Erfassung der eigenen Gesundheit nimmt jährlich stark zu. Die Sensorik der Geräte verbessert sich kontinuierlich, mit einem starken Fokus auf medizinisch valide Werte wie EKG, SPO², Blutdruck, Hautleitfähigkeit (EDA) beziehungsweise Blutzucker. Die zunehmende Integration in bestehende Versorgungslösungen und die immer besser werdende Sensorik macht die smarten Geräte wiederum für Patienten und Konsumenten interessanter. Und am Ende ebenfalls für die medizinische Forschung.


Friedrich Lämmel 

Gründer und CEO

Thryve